Wenn Städte Wachsen - zur Lebensqualität in peripheren Gebieten

Städte wachsen – was bedeutet das für die Lebensqualität?

Diebäcker: Wenn Städte dynamisch wachsen, ist das unter anderem durch ökonomische Innovationen, technischen Errungenschaften oder eine Vielfalt urbaner Lebensstile gekennzeichnet. Diese positiven Effekte sind aber mit „Wachstumsschmerzen“ verbunden wie Verknappung von Baulandreserven, drohende Gentrifizierung und steigende Mieten, mehr Verkehr oder ein schlechter werdendes Stadtklima. Lebensqualität muss also differenziert betrachtet werden. Wer profitiert von welchen Entwicklungen und wer nicht. Eine soziale Stadtpolitik ist mit Blick auf Bildung, Wohnen und Gesundheit besonders gefordert, den Lebensstandard von jenen zu sichern, die eben nicht vom Wachstum profitieren. Deswegen zielt die Tagung darauf ab, Zukunftstrends städtischer Entwicklung in peripheren Gebieten zu analysieren und innovative, qualitätsvolle Projekte zu diskutieren.

Was verstehen Sie unter qualitätsvoller Stadtentwicklung?

Glogar: Eine Antwort auf Städtewachstum ist die Nachverdichtung. Gerade in peripheren Räumen wie dem in der Industrialisierung entstandenen Arbeiter*innenviertel in Favoriten braucht es aber dann zusätzliche soziale Infrastrukturen wie Schulen, ausreichend Freiräume, soziale und kulturelle Angebote wie Jugendzentren und Senior*innentreffs. Untersuchungen zeigen auch, dass Stadträume, die so konfiguriert sind, dass sie soziale Interaktion, aber auch privaten Rückzug erlauben, Lebensqualität ermöglichen. Die Stadt hat hier eine besondere Verantwortung, damit Lebensqualität am Ende nicht eine Frage des Einkommens und der Leistbarkeit ist.

Was macht die Lebensqualität in Arbeiter*innenvierteln aus?

Glogar: Es gibt die Lebensqualität jener, die schon da waren und eine andere für jene, die hinzukommen. Es geht darum, nicht abzuwerten, neue urbane Praktiken miteinzubeziehen und Diversitäten hochzuhalten. Für jede Person ändert sich die Lebensqualität im Laufe der Zeit. Daher braucht es experimentelle, bedarfsgerechte Wohnformen, mehr Gemeinschaftsräume für verschiedene Lebensmodelle und -phasen, etwa in der Jugend und im Alter. Normwohnungen, die das ganze Leben lang passen, sind ein Auslaufmodell. Ein experimentelles Beispiel ist das Projekt "Kalkbreite" in Zürich, dort lebt man mit kleinen Wohnräumen, dafür großen Gemeinschaftsräumen, Photovoltaik am Dach und Mobilitätskonzept mit Radverkehr. Ein anderes das Projekt „Mehr als Wohnen“, auch ein Architekturprojekt für die Gemeinschaft aus Zürich – ein 41.000 m² großes Areal, keine bloße Siedlung, sondern ein lebendiges Quartier. In suburbanen Räumen ist die Quartiersbildung besonders wichtig, sie hört nicht an der Grenze eines Bauplatzes auf, sondern funktioniert wie eine Stadt in der Stadt.

Welche Rolle hat der öffentliche Raum?

Diebäcker: Der Öffentliche Raum verbessert die Lebensqualität. Denn eine hohe Freiraumqualität stützt die sozialen Beziehungen und ist der Boden einer städtischen Gesundheitsförderung. Mehr Grünraum und weniger versiegelte Flächen sind wesentlich, um den Temperaturanstieg zu verringern. Und der öffentliche Raum muss mehr Platz für nachhaltige Mobilitätsformen bieten. Bei diesem notwendigen Wandel geht es im Sinne einer partizipativen Stadtentwicklung darum, mit den Perspektiven der lokalen Bevölkerung zu arbeiten.

Warum stehen gerade die Arbeiter*innenviertel im Mittelpunkt?

Diebäcker: Wenn über Städtewachstum diskutiert wird, geht es meistens um zentrale Lagen in „boomenden“ Metropolen. Gelegentlich wird auch über schrumpfende Städte und deren Herausforderungen debattiert. Sich Stadtentwicklung in Arbeiter*innenvierteln, also in peripheren Räumen wachsender Städte, transdiszplinär anzuschauen, das gab es bislang noch nicht.

Was bringt der transdisziplinäre Zugang?

Diebäcker: Urbane Entwicklungen sind heute so komplex, dass eine Disziplin allein keine treffenden Antworten mehr geben kann. In der Stadtforschung geht es darum, Phänomene aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu betrachten und dann das Wissen von Sozial- und Humanwissenschaften, Architektur und Raumplanung sowie Naturwissenschaft zu bündeln. So können komplexe und variable Lösungen für gesellschaftliche Trends gefunden und umgesetzt werden. Ein Beispiel: Wir erleben heute enorme Technologiesprünge, aber nicht alles was technisch machbar oder innovativ ist, trifft bei den Nutzer*innen auf Akzeptanz. Diese Brücke kann nur gemeinsam gebaut werden.

Wie funktioniert das am Beispiel der Mobilität?

Glogar: Bestimmte in den 1960er Jahren der motorisierte Individualverkehr die Mobilität, sind es aktuell Konzepte wie Car-Sharing, Ausbau des Fuß- und Radverkehrs, aber auch autonomes Fahren. Das Thema Mobilität wird jedoch derzeit überwiegend von technischen Innovationen geprägt, für die Zukunft wäre es sinnvoll noch stärker interdisziplinär zu forschen, zukünftige Nutzer*innen stärker einzubinden, um hier eine höhere Akzeptanz zu erreichen, aber auch damit einhergehende gesellschaftliche Veränderungen einzubeziehen.

Welche Veränderungen sehen Sie in Favoriten? Was ist spezifisch und was liegt im internationalen Trend?

Diebäcker: Der neue Stadtteil Sonnwendviertel rund um den Hauptbahnhof, die U1-Verlängerung, die Neugestaltung des Reumannplatzes, die Entwicklung der FH Campus Wien zur Science City im Süden Wiens sind nur einige Beispiele dafür, dass sich der ehemalige Arbeiter*innenbezirk Favoriten verändert – mit hoher Dynamik. Beispielsweise wird sich die Entwicklung des Sonnenwendviertels auf das Leben in Innerfavoriten auswirken und der Druck auf das schon länger hier wohnende „moderne Prekariat“ steigt. Stadtentwicklungsprozesse wie in Favoriten, lassen sich auch in anderen Städten beobachten. Beispielsweise liegt die Nachverdichtung und Verwertung von brach liegenden Industrie- und aufgelassenen Infrastrukturflächen etwa der Bahn im internationalen Trend.
Glogar: Das Spezifische an Favoriten oder Wien ist beispielsweise der hohe Anteil an öffentlich subventioniertem Wohnbau. Punkto Innovations- und Experimentierfreude, etwa mit neuen Wohnformen oder Bürger*innenbeteiligung in der Stadtplanung sehen wir in Favoriten oder in Wien noch Potenzial. Die große soziale Frage der Zukunft bei uns und in anderen Metropolen bleibt jene nach dem leistbaren Wohnen – solche und andere Themen der Stadtentwicklung stehen im Mittelpunkt der Tagung.

Marc Diebäcker
ist Politikwissenschaftler und Sozialraumexperte mit dem Schwerpunkt soziale Stadtentwicklung, Isabel Glogar Architektin und Stadtforscherin. Einer ihrer Schwerpunkte ist das Wohnen aus kulturhistorischer, soziokultureller und architektur-theoretischer Perspektive. Als Mitglieder der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe „Lebensqualität urbaner Räume“ der FH Campus Wien haben sie die Konferenz “Urbane Transformationen und Lebensqualitäten in der wachsenden Stadt” mitgestaltet. Sie findet im Zuge des Projekts WienerWissensWelt-Trendradar für Markt und Wissenschaft, gefördert von der Stadt Wien (MA 23), zum Aufbau einer Wissendrehscheibe und im Rahmen des internationalen Hochschulnetzwerks INUAS statt.

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