Interview mit Susanne Breier

„Ich bin komplett.“

Susanne Breier ist Ergotherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin (DAHTH, EFSHT). Bei den Campus Lectures des Departments Gesundheitswissenschaften sprach sie über „Myoelektrische Teilhandprothesen nach Amputation – Therapeutische Konzepte und Besonderheiten“. Sie berichtet, warum die interdisziplinäre Zusammenarbeit so wichtig ist und welchen besonderen Moment es für sie auch noch nach Jahren in der Therapie gibt.

Was ist das Besondere an einer myoelektrischen Teilhandprothese?

Mit unseren Fingern können wir sogar nach Stecknadeln greifen – der Pinzettengriff ist nur eines von vielen möglichen Bewegungsmustern der Hand. Eine Teilhandprothese bezieht erhaltene, funktionstüchtige Finger oder Handbereiche ein, die nach Anpassung des Prothesensystems mit den Prothesenfingern zusammenarbeiten und Griffmuster wie den Lateralgriff bei erhaltenem Daumen übernehmen. Es können ein bis zu fünf Finger ersetzt werden; das Besondere an Teilhandprothesen ist das noch vorhandene Handgelenk. Die hinter einer myoelektrischen Prothese stehende Technik funktioniert so: Bei jeder Kontraktion eines Muskels entsteht aufgrund biochemischer Vorgänge elektrische Spannung, die auf der Haut messbar ist. Die Prothese erkennt über Elektroden diese Aktivität und setzt sie mit Motoren in Bewegungen um; diese werden also nicht durch Muskelkraft erzeugt, sondern nur vom Muskel gesteuert.

Wie sieht die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Rehabilitation aus?

Selten ist eine Amputation der oberen Extremitäten planbar, meist geht ihr ein traumatisches Ereignis voraus. Eine gelungene Prothesenanpassung ist daher von Anfang an multidisziplinär anzugehen: Orthopäditechniker*in, Ergo- oder Physiotherapeut*in, Chirurg*in und Patient*in denken gemeinsam über mögliche Lösungen nach. Sich laufend auszutauschen ist entscheidend, um Patient*innen beim Rehabilitationsprozess individuell zu unterstützen. Ich halte es darüber hinaus für wichtig, die Zusammenarbeit mit den Chirurg*innen noch stärker zu forcieren. Letztendlich sind sie es, die durch den Eingriff optimale Voraussetzungen für eine erfolgreiche prothetische Versorgung schaffen. Eine wichtige Aufgabe in der Therapie ist es, die besonderen Bedürfnisse des*der Anwender*in herauszufinden und mit dem*der Techniker*in abzustimmen, was individuell sinnvoll und technisch machbar ist. Welche Muskelaktivitäten sind je nach Anatomie nutzbar? Wofür soll die Prothese im Alltag – also in der Freizeit und im Beruf – konkret eingesetzt werden? Manchmal braucht es zwei Prothesen, eine robuste für grobe Arbeiten, etwa in der Landwirtschaft und eine für die Feinmotorik.

Wie verändert der Einsatz der Technologie die Ergotherapie?

Die Therapie mit einer myoelektrischen Prothese ist eine Kombination aus modernster Technologien und der ergotherapeutischen Idee des Tätigseins. Die Versorgung eines amputierten Menschen ist anspruchsvoll, komplex und erfordert ein umfassendes therapeutisches Spektrum. Das bedeutet aber auch, dass sich Therapeut*innen mit diesen Technologien vertraut machen müssen. Nur wenn sie deren Funktionsweise kennen, können sie Patient*innen im Umgang optimal anleiten und helfen, das Potenzial der Prothese voll auszuschöpfen. Denn am Ende soll nicht die Prothese den Menschen beherrschen, sondern der Mensch die Prothese.

Was ist Ihrer Erfahrung nach besonders wichtig, damit die Prothesenanpassung funktioniert?

Das multidisziplinaere Team, die Koordination des Rehateams und einzelner Abläufe sind wichtige Erfolgsfaktoren, an denen wir arbeiten müssen. Es gilt, die von innen her kommende Motivation der Betroffenen zu fördern, sodass sie sich aktiv  am Trainings- und Lernprozess beteiligen.
Gerade beim Verlust der oberen Extremität müssen wir uns in der Therapie immer wieder die Ausgangssituation bewusst machen: da ist ein traumatisierter Mensch, der aus Therapiesicht grundsätzlich innerhalb relativ kurzer Zeit zurück ins (Berufs-)Leben finden kann. Zu Beginn ist bei fast allen die Motivation groß. Diese kann jedoch rasch in Ablehnung umschlagen, wenn Anpassung und Training nicht optimal verlaufen. Die Ablehnungsrate ist gerade bei Handprothesen signifikant hoch.

Gibt es einen besonderen Moment in der Therapie?

Wir identifizieren uns mit unseren Händen und mit dem, was sie ausdrücken. Ein aktiver, produktiver Mensch wird durch das Trauma einer Amputation aus seinem Lebenskontext gerissen. Eine Amputation ist ein tiefgreifender Verlust, der vom Betroffenen wie in einem Trauerprozesses verarbeitet wird. Eine Prothese gibt Perspektive und Hoffnung auf Rückkehr in ein erfülltes Leben.
Trotz des roboterhaften Aussehens einer myoelektrischen Prothese bin ich immer wieder erstaunt, wie komplett ein Mensch mit Prothese wirkt und wie sehr er dieses „ich bin komplett“ auch ausstrahlt.


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