Auf den Spuren von Hippokrates

PD Dr. habil. Karl-Heinz Steinmetz, lehrt im Masterlehrgang Ganzheitliche Therapie und Salutogenese Traditionelle Europäische Medizin und Klostermedizin an der FH Campus Wien. Er absolvierte das Studium der Theologie, Philosophie und Mittelalterlichen Geschichte. Er ist Privatdozent an der Universität Wien sowie Leiter des Instituts für Traditionelle Europäische Medizin.

Status quo der traditionellen europäische Medizin?

Wiederentdeckung.

Eine eigenständige traditionelle Europäische Medizin – TEM – hat eine genauso Jahrtausende alte Tradition wie TCM, nur ist sie bei uns länger in Vergessenheit geraten. Das ändert sich gerade. Die TEM hat eine große regionale Vielfalt und zahlreiche bekannte Vertreter*innen wie Hippokrates von Kos oder Hildegard von Bingen – mit ganzheitlichen diagnostischen und therapeutischen Methoden. TEM ist Kloster- und Vier-Temperamente-Medizin, Pulsdiagnose, Ernährung, Meditation, Massage, Wärmetherapie, Schröpfen und vieles mehr. Überraschenderweise lässt sich TEM aber nicht auf den engeren europäischen Kulturraum begrenzen. Im Gegenteil; sie zieht ihre Spuren bis ins frühere Persien und sogar nach Tibet. Der starke kulturelle Austausch manifestiert sich nicht nur in überlieferten Rezepten. Über die Seidenstraße kam beispielsweise Ayurvedawissen im Mittelalter aus Indien nach Europa. Zwischen TEM und TCM sind Verbindungen hingegen nicht so leicht nachweisbar.

Mystik oder auf dem Weg zur Wissenschaft?

Wissenschaft.

Die Klosterbibliotheken Europas sind voll mit Büchern über traditionelle europäische Heiltraditionen. Es gilt Handschriften und frühe Drucke im Original zu übersetzen, zu systematisieren und zu vergleichen. Da kommt noch viel Unerforschtes zu Tage, wie etwa die Bedeutung der ganzheitlichen Pulsdiagnose in der europäischen Heiltradition, die eine Einsicht in die energetische Gesamtverfassung des Organismus gewährt. Sie bezieht Symptome wie Schlafverhalten, Geschlecht, Jahreszeit oder Ernährungsgewohnheiten mit ein. Es gibt Studien der Universität Teheran, dass Pulsdaten mit „Stoffwechsel-Typen“ – den vier Temperamenten Phlegmatiker, Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker – und mit Werten des Hormonhaushalts korrelieren. Am Institut für Traditionelle Europäische Medizin betreiben wir medizingeschichtliche Grundlagenforschung, aktuell rund um Physiotherapie, Massage und Reflexpunkte oder zum Thema der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesundheitsküche Europas im interkulturellen Vergleich. Daraus leiten wir Anwendungen für die moderne Ernährungsberatung ab. Unser Ziel ist es, altes Wissen der TEM auf den Prüfstand zu stellen, gemäß dem Standard moderner Integrativmedizin neu zu interpretieren, bevor wir es in die heutige Zeit integrieren.

Mit der Schulmedizin in Kooperation oder Konkurrenz?

Kooperation.

Die Medizin, wie wir sie kennen, ist im Umbruch; ja eigentlich das ganze Gesundheitssystem. Ich merke schon jetzt, dass sich Medizinstudent*innen zunehmend für TEM interessieren, über die Grenzen heutiger mainstream-Medizin reflektieren und nach Ressourcen suchen, die gerade die TEM bereitstellen könnte. Traditionelle Heilverfahren können und sollen mit der Schulmedizin nicht in Konkurrenz treten, sondern sie ergänzen. Dass sich beides durchaus vereinbaren lässt, zeigt schon allein der Umstand, dass ÄrztInnen heute noch den Eid des Hippokrates schwören, des Vaters der Medizin als Wissenschaft und gleichzeitig des Vaters der TEM. Eine besondere Stärke der Traditionellen Europäischen Medizin sehe ich in dem von der Schulmedizin oft vernachlässigten Feld der Prävention. TEM bietet alltagstaugliche Hilfestellungen, den eigenen Weg in Sachen Gesundheit zu finden und damit zu mehr Lebensqualität zu gelangen.


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